Das Grosse Rätsel unserer Zeit

Henry George
Das Grosse Rätsel unserer Zeit
Fortschritt und Armut, Kapitel 1

Unsere Zeit hat den Dampf und die Elektrizität dem Menschen dienstbar gemacht: sie hat die Arbeitsverfahren verbessert, arbeitsparende Maschinen erfunden, die Arbeitsteilung verfeinert, der Produktion einen immer größeren Maßstab gegeben und den Verkehr von Waren und Menschen wunderbar erleichtert. Das alles hat das Leistungsvermögen der Arbeit um das Vielfache vermehrt.

Es war natürlich, zu erwarten – und es wurde auch erwartet –, daß die arbeitsparenden Erfindungen die Mühsal der Arbeit erleichtern und die Lage der Arbeiter bessern würden. Es wurde auch angenommen, daß der gewaltige Kraftzuwachs der Gütererzeugung die wirkliche Armut zu einer Erscheinung der Vergangenheit machen würde.

Was hätte wohl ein Franklin oder ein Priestley gedacht, wenn er gleichsam in einer Zukunftsvision gesehen hätte, wie das Dampfschiff das Segelschiff ersetzt, die Eisenbahn den Wagen und die Dreschmaschine den Flegel? Oder wenn er das Dröhnen der Maschinen gehört hätte, die menschlichem Willen gehorsam für die Befriedigung menschlicher Wünsche mehr Kraft leisten als alle Menschen und Arbeitstiere der Welt zusammengenommen? Oder wenn er gesehen hätte, wie der Baum des Waldes in Schmittholz, in Türen, in Fensterrahmen und -läden, in Kisten und Fässer verwandelt wird, fast ohne von Menschenhand berührt zu werden? Oder wie in Großbetrieben Schuhe und Stiefel serienweise mit weniger Arbeitsaufwand hergestellt werden, als der altmodische Schuster für eine Besohlung braucht? Oder wie in Fabriken unter Aufsicht eines Mädchens Baumwolle schneller zu Stoff wird, als das tüchtigen Weberfäusten auf ihren Handwebstühlen je gelingen kann? Wenn er hätte sehen können, wie Dampfhämmer Mammutwellen und riesige Anker formen und Feinmaschinen winzige Uhren fertigen, und wie der Diamantbohrer das Herz des Gesteins durchdringt? Wenn er sich die gewaltige Arbeitsersparnis hätte denken können, die sich aus der Technisierung von Handel und Verkehr ergibt, die es z.B. ermöglicht, daß australische Schafe in England als Frischfleisch gegessen werden und daß ein Bankauftrag, der nachmittags in London aufgegeben wird, noch am selben Tage in San Francisco ausgeführt wird? Welche Folgerungen hätte er aus all diesen Vervollkommnungen unserer Zeit, die ich hier nur andeuten kann, auf die soziale Verfassung der Menschheit gezogen?

Sicherlich hätte er geglaubt, gar nicht folgern zu brauchen. Er hätte weit über das, was er tatsächlich sah, hinausgesehen. Sein Herz hätte frohlockt und seine Nerven gefiebert wie einem Manne, der von einer Höhe dicht vor der durstgequälten Karawane rauschende Wälder schimmern und lachende Wasser blinken sieht. Ganz deutlich hätte er mit seinem geistigen Auge gesehen, wie die neuen Kräfte die Gesellschaft von Grund auf erhöhen, den aller ärmsten über die bloße Möglichkeit der Armut emporheben und den Allergeringsten von der Angst um die materiellen Nöte des Lebens befreien. Er hätte gesehen, wie die Sklaven der Wissenschaft den Adamsfluch auf sich nehmen, wie ihre Muskeln von Eisen und ihre Sehnen von Stahl das Leben des ärmsten Arbeiters zu einem Feiertag machen, in dem alle hohen Eigenschaften und edlen Impulse sich frei entfalten können.

Und als notwendige Folge hätte er aus dieser wohltätigen materiellen Verfassung eine sittliche Verfassung entstehen sehen, die das goldene Zeitalter, von dem die Menschheit immer träumt, zur Wirklichkeit macht. Die Jugend nicht mehr verkümmert und darbend, das Alter nicht mehr zu geizigem Sparen gezwungen! Schlechtigkeit verbannt, Zwietracht in Harmonie verwandelt! Denn wie kann es noch Habgier geben, wo alle genug haben? Wie können Verbrechen und Laster, Unwissenheit und Roheit, die der Armut und der Furcht vor Armut entspringen, noch bestehen, wo die Armut verschwunden ist? Wer sollte sich noch ducken, wo alle frei sind? Wer noch unterdrücken, wo alle gleich sind?

Das sind, mehr oder weniger, klar oder unklar, die Hoffnungen und Träume, die die Vervollkommnungen auslösten, denen unsere wunderbare Zeit ihren Vorrang verdankt. Sie haben sich so tief in den Volksgeist gesenkt, daß sie die Gedankengänge radikal geändert, die Glaubenssätze neu geformt und die grundlegendsten Begriffe verdrängt haben.

Doch Enttäuschung ist auf Enttäuschung gefolgt; weder verminderten alle Entdeckungen und Erfindungen die Mühsal derer, die am meisten der Erholung bedürfen, noch brachten sie den Armen die Fülle. Aber dieses Versagen konnte auf so viele Dinge zurückgeführt werden, daß der neue Glaube bis heute kaum wankend geworden ist. Wir haben gelernt, die Schwierigkeiten, die zu überwinden sind, besser einzuschätzen, vertrauen aber dennoch darauf, daß die Zeit sie überwinden werde.

Nun aber stoßen wir auf Tatsachen, die nicht mißverstanden werden können. Aus allen Teilen der zivilisierten Welt kommen Klagen über Wirtschaftskrisen, über Arbeit, die zu unfreiwilliger Muße verurteilt ist, über Kapital, das gehäuft daliegt und verdirbt, über Geldmangel in der Geschäftswelt, über Entbehrung, Leid und Sorge unter den Arbeiterschichten. Es herrscht Not, wo große stehende Heere unterhalten werden, es herrscht aber auch Not, wo das Militär nur auf dem Papier steht. Es herrscht Not, wo Schutzzölle erhoben werden, es herrscht aber auch Not, wo der Handel fast frei ist. Es herrscht Not, wo noch autokratisch regiert wird, es herrscht aber auch Not, wo die politische Macht ganz in den Händen des Volkes liegt, in Ländern mit Papiergeld und in Ländern mit Gold und Silber als einziger Währung. Offenbar müssen wir auf eine gemeinsame Ursache all dieser Erscheinungen schließen.

Und es gibt eine gemeinsame Ursache. Sie ist entweder der materielle Fortschritt selbst oder etwas, was mit ihm zusammen­hängt. Das wird mehr als eine logische Folgerung, wenn sich er: weist, daß die als Wirtschaftskrisen bezeichneten Phänomene nur Verstärkungen von Phänomenen sind, die den materiellen Fort: schritt stets begleiten und um so klarer und stärker hervortreten, je weiter der materielle Fortschritt geht.

In die jüngeren Länder – d.h. in die Länder, deren materieller Fortschritt noch jüngeren Datums ist –wandern die Arbeiter auf Suche nach höheren Löhnen aus, und in sie fließt das Kapital auf Suche nach höheren Zinsen. In den älteren Ländern – d.h in den Ländern, wo der materielle Fortschritt spätere Stufen erreicht hat – findet sich weitverbreitete Mittellosigkeit inmitten von größtem Oberfluß. Gehen wir in eines der neuen Gemeinwesen, wo die Organisation von Produktion und Handel noch primitiv und leistungsschwach ist, wo die Gütererzeugung noch so gering ist, daß keine Schicht in Behagen und Oberfluß leben kann, wo das beste Haus nur eine Blockhütte oder Dachpappenbude ist und der Reichste zu täglicher Arbeit gezwungen ist, so finden wir zwar keinen Wohlstand mit all seinen Begleiterscheinungen, aber auch keine Bettler. Hier ist kein Oberfluß, aber auch keine Not. Niemand lebt leicht, niemand lebt besonders gut, aber jeder kann leben, und niemand, der zur Arbeit fähig und bereit ist, wird durch die Furcht vor Not bedrückt.

Aber die Armut gewinnt einen dunkleren Aspekt, sobald ein solches Gemeinwesen die Bedingungen erreicht, die alle zivilisierten Gemeinwesen anstreben, d.h. je höher es auf der Stufenleiter des materiellen Fortschritts steigt, je mehr eine dichtere Besiedlung, eine innigere Verbindung mit der übrigen Welt und ein größerer Gebrauch arbeitsparender Maschinen größere Wirtschaftlichkeit in Erzeugung und Verkehr ermöglichen und der Wohlstand nicht nur in absoluter Höhe, sondern auch im Verhältnis zur Bevölkerung steigt. Manche führen ein unendlich besseres und leichteres Leben, andere finden es schwer, überhaupt zu leben. Den Schwarzfahrer gibt es, sobald es Eisenbahnen gibt; und Armenhäuser und Gefängnisse sind ebenso sichere Zeichen des materiellen Fortschritts wie kostspielige Wohnungen, reiche Warenhäuser und prächtige Kirchen.

Diese Tatsache – die bedeutsame Tatsache, daß die Armut mit all ihren Begleiterscheinungen sich in Gemeinwesen zeigt, sobald sie die Bedingungen erreichen, die das Ziel des materiellen Fortschritts sind – beweist, daß die sozialen Schwierigkeiten, die bei Erreichung einer bestimmten Stufe des Fortschritts allgemein auftreten, nicht örtlichen Umständen entspringen, sondern irgendwie durch den Fortschritt selbst hervorgerufen werden.

Diese Verbindung der Armut mit dem Fortschritt ist das große Rätsel unserer Zeit. Sie ist die zentrale Tatsache, aus der wirtschaftliche, soziale und politische Schwierigkeiten entspringen, die die Welt bestürzen, und mit der die Staatsmänner, Philantropen und Erzieher vergeblich ringen. Von ihr gehen die Wolken aus, die die Zukunft der fortgeschrittensten und selbstbewußtesten Völker bedrohen. Sie ist das Rätsel, das die Sphinx des Schicksals unserer Kultur stellt. Wenn es nicht gelöst wird, so bedeutet es den sicheren Untergang. Solange sich die ganze Zunahme der Gütererzeugung, die der moderne Fortschritt mit sich bringt, darauf beschränkt, große Vermögen aufzubauen, den Luxus zu vermehren und den Gegensatz zwischen Palast und Hütte zu verschärfen, ist der Fortschritt nicht echt und kann nicht von Dauer sein.

So schicksalhaft diese Frage auch ist, die auf Schritt und Tritt unsere Aufmerksamkeit schmerzlich erregt, so hat sie doch noch keine Lösung gefunden, die alle Tatsachen erklärt und auf einklares und einfaches Heilmittel hinweist. Das bestätigen die recht verschiedenartigen Erklärungsversuche der Wirtschaftskrisen. Sie zeigen nicht nur ein Abweichen der Vorstellungen des Volkes von den wissenschaftlichen Theorien, sondern auch, daß die Übereinstimmung, die zwischen den Anhängern der gleichen Grundtheorien bestehen sollte, bei Fragen der Praxis in eine Anarchie von Meinungen auseinander bricht.

Die große Masse des Volkes fühlt deutlich, wie schwer sie davon getroffen wird, und sie ist sich schmerzlich bewußt, daß ihr ein Unrecht geschieht. Deshalb verbreiten sich schnell bei ihr die Gedanken, daß ein unvermeidlicher Konflikt zwischen Kapital und Arbeit bestehe, daß die Maschine ein übel sei, daß der Wettbewerb beschränkt und der Zins abgeschafft werden müsse, daß Wohlstand durch Drucken von Geld erzeugt werden könne und daß es Pflicht der Regierung sei, Kapital oder Arbeit zu beschaffen. Solche Gedanken sind gefährlich. Denn sie bringen die großen Massen –letzten Endes die Träger der politischen Gewalt – unter die Führung von Scharlatanen und Demagogen. Sie können aber nicht eher mit Erfolg bekämpft werden, als bis die Volkswirtschaft auf die große Frage eine Antwort gibt, die mit all ihren Lehren übereinstimmt und auch von den großen Massen verstanden wird.

Die Volkswirtschaftslehre ist dafür zuständig, diese Antwort zu geben. Denn sie ist nicht eine Reihe von Dogmen. Sie ist die Erklärung einer bestimmten Reihe von Tatsachen. Sie ist die Wissenschaft, die in der Abfolge gewisser Phänomene Wechselbeziehungen nachzuweisen und Ursache und Wirkung festzustellen sucht, wie es die Physik in anderen Reihen von Phänomenen tut. Sie legt ihre Fundamente auf festen Grund. Die Voraussetzungen, von denen sie ableitet, sind Wahrheiten höchster Autorität. Es sind Axiome, die wir alle anerkennen. Sie sind der sichere Grund des Denkens und Handeins im täglichen Leben und können auf den metaphysischen Ausdruck des physikalischen Gesetzes zurückgeführt werden, daß die Bewegung den Weg des geringsten Widerstandes sucht, d.h., daß die Menschen ihre Wünsche mit dem geringsten Kraftaufwand zu befriedigen suchen. Von einer derart gesicherten Grundlage ausgehend haben ihre Verfahren der Verbindung des Gleichen und der Trennung des Ungleichen dieselbe Gewißheit. In diesem Sinne ist sie eine ebenso exakte Wissenschaft wie die Geometrie, die aus ähnlichen Wahrheiten räumlicher Beziehungen ihre Schlüsse mit ähnlichen Mitteln zieht. Ihre Schlüsse sollten daher selbstverständlich sein, wenn sie logisch richtig sind. Und wenn wir auch im Bereich der Volkswirtschaftslehre unsere Theorien nicht durch künstlich gesetzte Kombinationen oder Bedingungen nachprüfen können, wie dies bei einigen der übrigen Wissenschaften möglich ist, so können wir doch ebenso schlüssige Nachprüfungen anstellen, indem wir Gesellschaften, in denen verschiedene Bedingungen bestehen, miteinander vergleichen, oder indem wir Kräfte oder Faktoren bekannter Richtung gedanklich isolieren, kombinieren, hinzufügen oder ausschalten.

Die Volkswirtschaftslehre, wie sie z.Z. gelehrt wird, erklärt die Fortdauer von Armut inmitten wachsenden Reichtums nicht in einer Weise, die mit den tief verwurzelten Vorstellungen des Volkes übereinstimmt. Die unzweifelhaften Wahrheiten, die sie lehrt, sind voneinander getrennt und nicht aufeinander bezogen. Sie hat auf das Denken des Volkes keinen wachsenden Einfluß gewinnen können. Das liegt meines Erachtens nicht an einer Unfähigkeit der Wissenschaft, sofern sie richtig betrieben wird, sondern an einem Fehler in ihren Voraussetzungen oder einem übersehenen Faktor in ihren Berechnungen. Da derartige Fehler für gewöhnlich aus Achtung vor der Autorität verborgen bleiben, beabsichtige ich, in dieser Untersuchung nichts als gesichert an­zunehmen. Ich beabsichtige, keine Frage als bewiesen anzusehen, vor keiner Folgerung zurückzuschrecken, sondern der Wahrheit zu folgen, wohin sie auch führen mag. Laßt uns nicht wanken, wenn die Schlüsse, die wir ziehen müssen, unseren Vorurteilen zuwiderlaufen; laßt uns nicht weichen, wenn sie Institutionen herausfordern, die seit langem als natürlich und weise gelten.